Blick auf das Brandenburger Tor in Berlin während der Demo "Wir haben es satt!"

Wir haben es satt 2020!

von Gerhard Reil, Referent für die Entwicklung biodynamischer Höfe in Niedersachsen 

Zum zehnten Mal trafen sich am 18. Januar 2020 in Berlin Menschen aus der Landwirtwirtschaft und dem Gartenbau, Konsumenten und politisch Engagierte, Sympathisanten aus allen Bereichen rund um die Agrarbranche und Ernährung, Umwelt- und Tierschutz.

27.000 Teilnehmende und 170 Traktoren.

Allein 30 Traktoren im Konvoi aus dem Wendland, soviel wie noch nie in den zehn Jahren zuvor. Die Demonstration war sehr gut vorbereitet, groß und lautstark:

Ein Trekkerkonvoi durch das ganze Berliner Stadtgebiet und nachher einmal rund um das Brandenburger Tor bis zur Friedrichsstraße und zurück. Dazu der große Tross, der zu Fuß demonstrierenden Menschen. Die Berliner Innenstadt war für diesen Tag stillgelegt! Sogar die Agrarministerin Julia Klöckner nahm sich extra dafür eine halbe Stunde Zeit, unterbrach die Agrarministerkonferenz, um die Forderungen der Demonstranten und der Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft (AbL) entgegenzunehmen und zu kommentieren.

Agrarwende

Die Themen der Agrarwende werden immer präsenter, das zeigen die hohen Teilnehmerzahlen:

Mehr Tierwohl, mehr Artenschutz, mehr Ökolandbau auf breiter Fläche, Erhalt einer klein strukturierten und vielfältigen Agrarstruktur und damit Erhalt des ländlichen Raumes. Deutliche Zeichen setzen gegen die Agrarindustrie, für eine starke Unterstützung durch die Politik, mit hoher gesellschaftlicher Akzeptanz usw. Das sind die großen Themen der Demo seit zehn Jahren in verschiedenen Nuancen.

Aber jetzt kommt Dynamik in die politische Landschaft, das zeigen die Zahlen auch: Die Politik kommt am Klimaschutz und der Artenvielfalt nicht mehr vorbei, das bewirken die vielen Demos des letzten Jahres in ganz Deutschland und weltweit. Bienen und Artenvielfalt rücken immer weiter ins Bewusstsein – siehe die Studien der dramatischen Verluste, aber auch erfolgreiche Volksbegehren in Süddeutschland. Dazu gibt es politische Dauerbrenner wie die neue Düngeverordnung, die die Intensiv-Landwirtschaft in arge Bedrängnis bringt und aufgrund Besitzstandswahrung reflexhaft um sich schlagen lässt. Und weitere Begleitmusik in der agrarpolitischen Diskussion sind die Themen Ferkelkastration, Küken-Töten, Megaställe bis hin zur Ausgestaltung der neuen Gemeinsamen EU-Agrarpolitik ab 2022 (GAP). 

Und es gibt eine ganz neue Entwicklung zu beobachten: Die konventionelle Landwirtschaft differenziert sich immer weiter, so ist die Bewegung „Land schafft Verbindung (LsV)“ zu verstehen: Landwirte, die demonstrieren, ihren Standpunkt vertreten, überwiegend mit großen, spontan organisierten Trekkerdemos, aber sich nicht mehr von der bisherigen Agrarvertretung, dem Bauernverband, in Schach halten lassen, sondern sehr eigenwillig, teils unberechenbar, vorgehen. So war denn auch am Tag vor unserer großen Berlin-Demo schon ein beeindruckender Trekkerkonvoi mit mehr Fahrzeugen als „wir“ hatten, durch Berlin gezogen. Der Eindruck einer Gegnerschaft könnte dabei entstehen, politisch scheint das gewollt zu sein, doch damit werden nur die überall sonst auch kräftig wirkenden Spaltpilze bedient. Bei allen Gegensätzlichkeiten das Gemeinsame in den Fokus zu stellen, ist das zarte Pflänzchen, das sich aus den Kontakten zwischen Vertretern der AbL und von „Land schafft Verbindung“ ergibt: So konnte der Bundesgeschäftsführer der AbL, Georg Janßen, am Tag vorher auf der LsV-Veranstaltung sprechen und umgekehrt ein LsV-Vertreter, Thilo von Donner, auf der „Wir haben es satt“-Demo. Und die Anwesenden auf beiden Demos haben dies ganz überwiegend begrüßt, denn im Grunde geht es darum: Künftig miteinander statt übereinander 

sprechen, eine gesellschaftlich akzeptierte Form der Landbewirtschaftung und Tierhaltung zu finden, eine höhere Wertschätzung der Lebensmittel und täglichen Arbeit auf dem Lande zu erreichen, eine vielfältigere Agrarstruktur, die Lebensräume für alle Tiere erhält und wieder schafft, Arbeitsplätze auf dem Lande zu erhalten und den Hofnachfolger oder Neueinsteigern eine Perspektive zu ermöglichen und vieles mehr. Die Gegenbilder, die sich aus der jahrzehntelangen Politik des alleinigen Wachsens und Weichens ergeben, können an vielen Orten der Welt, aber auch an den Regalen und Theken des Lebensmitteleinzelhandels ausführlichst studiert werden.

„Trekker-Fahren ist politisch“

Das ist das Motto der diesjährigen Demo, und es wird in den nächsten Jahren sicher noch politischer werden und notwendig sein, den Druck von der Straße aufrecht zu erhalten, damit sich die Landwirtschaft in unserem Sinne weiterentwickelt. Deshalb nehmen immer mehr Menschen mit und ohne Traktoren teil, um ein Zeichen zu setzen.

Vielleicht schaffen wir nächstes Jahr 500 Traktoren im Konvoi und 50.000 Teilnehmende auf den Straßen!

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